30 June 2015

Die Kirche im Sarg


Kalte Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit, das war die Atmosphäre in Yonderton, als der Pfarrer Herbert Wright dort sein Amt antrat. Am ersten Sonntag predigte er in einer völlig leeren Kirche. Am zweiten Sonntag war es genauso. Und wenn der junge Pfarrer an den Werktagen seine Gemeindeglieder besuchte, um die eisige Gleichgültigkeit zu überwinden, erging es ihm nicht besser. „Unsere Kirche ist tot“, sagte man ihm überall im Dorf, „da können wir nichts mehr daran ändern.“

In der Woche vor dem dritten Sonntag erschien in der Zeitung eine Todesanzeige. Sie lautete: „Mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns und mit Zustimmung seiner Gemeinde meldet Herbert Wright, Pfarrer zu Yonderton, den Tod der Kirche in Yonderton. Die Trauer- und Gedächtnisfeier für die verstorbene Kirche findet am folgenden Sonntagmorgen um 9 Uhr statt. Alle sind herzlichst eingeladen, diesem Trauerakt in der Dorfkirche beizuwohnen.“

Um halb neun Uhr war sie, die bis dahin gemiedene Kirche in Yonderton, schon fast überfüllt. Nur mit Not konnten sich einige Leute noch einen Platz ergattern, von dem aus der Sarg zu sehen war, in dem die tote Kirche nun ruhte. Es war ein schlichter Eichensarg, der nur mit einem Kreuz geschmückt war. Er stand auf einer Bahre vor dem Altar.

Pünktlich um neun Uhr bestieg der Pfarrer die Kanzel. Er begann: „Liebe Trauergemeinde, die meisten von Ihnen haben es mir klargemacht, dass Sie davon überzeugt sind, unsere Kirche sei tot. Sie haben auch keinerlei Hoffnung auf Wiederbelebung; ich möchte nun diese Ihre Meinung auf die letzte Probe stellen. Bitte, gehen Sie alle, einer nach dem anderen, am Sarg unserer toten Kirche vorüber und nehmen Sie Abschied von ihr. Dann verlassen Sie die Kirche durch die Seitentür. Die Beisetzung der Toten findet dann im Stillen statt. Sollte aber jemand unter Ihnen sein, der doch noch auf eine Wiederbelebung unserer toten Kirche hofft, soll er bitte wieder durch die große Eingangstüre zurück in die Kirche kommen. Wenn sich genügend Leute einfinden, die an die Auferweckung unserer toten Kirche glauben, werden wir anchließend einen Dankgottesdienst zusammen feiern.“

Ohne weitere Worte trat der Pfarrer an den Sarg und öffnete ihn. Die Leute fragten sich alle, was der Pfarrer in den Sarg gelegt haben könnte. Sicher war es keine Leiche. Vielleicht eine Figur, die Christus, den Gekreuzigten, darstellt oder ein Modell der Kirche, vielleicht eine Bibel oder sonst etwas Geschriebenes. Andächtig und gespannt traten alle an den Sarg, blickten der Toten noch ein letztes Mal ins Gesicht und verließen dann die Kirche durch die Seitentür. Als alle von der Toten Abschied genommen hatten, schloss der Pfarrer den Sarg, ließ ihn wegtragen und begann vor vollzählig versammelter Gemeinde den Dankgottesdienst. Alle waren zurückgekehrt. Wieso?

Weil jeder, welcher der toten Kirche noch einmal ins Angesicht hatte schauen wollen, keine blasse, leblose Leiche im Sarg liegen sah, sondern nur eines ihrer toten Mitglieder erblickte: nämlich sich selbst in einem Spiegel.



...mag sein, dass der Schluss dieser Geschichte nur ein Traum ist - das mag sein, aber auf einen Versuch kommt es immer wieder an!

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